[Juliette 2/2018] – Chancen und Risiken der Digitalisierung im Bereich der Bildung

Zum Thema Digitalisierung und Bildung wird derzeit viel gesprochen und es wird viel Geld investiert, obgleich es nach den vorliegenden Daten erstens deutliche Hinweise auf schädliche Auswirkungen digitaler Informationstechnik auf das Lernen in Bildungseinrichtungen gibt und die behaupteten positiven Auswirkungen („Chancen“) nicht nachgewiesen sind. Betrachten wir ein Beispiel.

Amerikanische Wissenschaftler untersuchten die Auswirkungen von computergestütztem Unterricht bei 84 Schülern (im Alter von etwa 17 bis 18 Jahren) eines Kurses von 15 mal 2 Stunden Dauer (Ravizza SM, Uitvlugt MG, Fenn KM: Logged In and Zoned Out: How Laptop Internet Use Relates to Classroom Learning. Psychological Science 2017, 28: 171-180) auf die Ergebnisse einer schriftlichen Abschlussprüfung. Die Studenten konnten sich im Rahmen eines Kurses persönlich mit Benutzername und Passwort bei einem eigens dafür eingerichteten Proxy Server anmelden, und ihren Computer so wie immer im Unterricht verwenden. Aufgezeichnet und ausgewertet wurde der gesamte während des Unterrichts ablaufende Internet-Verkehr. Erfasst wurde die online verbrachte Zeit (nicht während der Pause, sondern nur während der Unterrichtszeit), getrennt nach auf den Kurs bezogenen Inhalten und nicht-unterrichtsbezogenen Inhalten, die Anzahl der entsprechenden http-Aufrufe und die Art der aufgerufenen URL, die im Hinblick auf die nicht-unterrichtsbezogenen Inhalte in sieben Kategorien klassifiziert wurden: Social Media (Facebook, Twitter), E-Mail, Chatten, Online Shopping (Amazon, eBay), Sport und Nachrichten, Video (YouTube, Netflix) und Videospiele. Für diese nicht-unterrichtsbezogenen Inhalte wurden im Durchschnitt 34% der Unterrichtszeit aufgewendet (d.h. vertrödelt).

Je größer diese Zeit war, desto schlechter schnitten die Studenten im Kurs ab (signifikanter negativer Zusammenhang). Kein Zusammenhang dagegen fand sich zwischen der kursbezogenen Computernutzungszeit und dem Lernerfolg. Die Autoren beenden die Diskussion ihrer Ergebnisse mit dem Satz: „Man kann diese Ergebnisse wie folgt interpretieren: Wäre digitale Informationstechnik ein Medikament gegen die ‚Krankheit Dummkeit‘, das man bei einer Gesundheitsbehörde (z.B. dem Bundesgesundheitsamt oder der US-amerikanischen FDA) zulassen wollte, dann würde die Behörde antworten, dass das Medikament keine Wirkung hat und die Krankheit sogar verschlimmert.“

Hinzu kommen die bekannten Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien auf die Gesundheit, vor allem bei ihrer Anwendung in Kindheit und Jugend: Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck (drei bekannte Risikofaktoren für die wichtigsten Todesursachen Schlaganfall und Herzinfarkt), Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit (über 90% bei Kindern und Jugendlichen in Südkorea, dem Land mit der weltweit besten digitalen Infrastruktur und größten Smartphone-Produktion), Schlafstörungen (beim überwiegenden Teil aller Nutzer), Stress, und erhöhtes Risikoverhalten im Straßenverkehr (das Smartphone hat den Alkohol als Unfallursache Nummer 1 bei jungen Menschen abgelöst) und Geschlechtsverkehr (die Nutzung von geosozialen Dating Apps korreliert mit dem Auftreten von Geschlechtskrankheiten).

Zu diesen Risiken und Nebenwirkungen im körperlichen Bereich kommen solche im geistig-seelischen (psychischen) Bereich: Aggression, Angst, Ablenkung bzw. Störungen der Aufmerksamkeit und Beeinträchtigung von Lern- und Bildungsprozessen, Depression (einschließlich Suizidalität und vermehrter Suizide), Demenz, Sucht und Verminderung von Empathie und Lebenszufriedenheit.

Gesamtgesellschaftlich ist von Bedeutung, dass digitale Informationstechnik zu Einsamkeit und Anonymität, einer Verminderung der in der Natur verbrachten Zeit und des Bildungserfolgs, zu weniger Vertrauen, Solidarität und Privatheit, zur vermehrten Radikalisierung und Verbreitung von Unwahrheit sowie zur Gefährdung der Demokratie führen, wie durch neue und neueste Studien belegt ist.

Dass man angesichts dieser Faktenlage digitale Informationstechnik im großen Stil ohne jegliche Technikfolgenabschätzung mit hohen öffentlichen Investitionen und großem Nachdruck einführen will, ist ebenso unverständlich wie unverantwortlich. Die oft vorgebrachten Argumente, „das müsse jetzt einfach sein“ und „man werde nach der Einführung schon noch herausbekommen, wie man es richtig macht“, erscheinen lächerlich und können nur als Ausdruck einer erheblichen Lobbyarbeit verstanden werden. Der Digitalpakt Deutschland hat zur Folge, dass die Bildungshoheit der Länder mit Mitteln des Bundes an Firmen in Kalifornien weitergereicht wird. Deutschland riskiert seine Zukunft, wenn es die Bildung und die Gesundheit seiner nächsten Generation den Profitinteressen der reichsten Firmen der Welt – Apple, Google, Microsoft, Amazon, Facebook – überlässt. In Südkorea wird durch gesetzliche Regelungen versucht, junge Menschen vor den negativen Auswirkungen ihrer Smartphone-Nutzung zu schützen. Wann beginnen wir, darüber nachzudenken?


Prof. Dr. med Dr. phil. Manfred Spitzer ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III am Universitätsklinikum Ulm.