[Juliette 2/2018] – Das Abitur — die Lizenz zum Studieren?

Neulich hatte ich mich mit einigen Freunden über unsere Abizeit unterhalten. Darüber, dass wir wirklich dachten, das Lernen wäre nach dem Abitur vorbei. Dass wir glaubten, dass der stressigste Teil des Lebens nun geschafft wäre. Oder das Studium nur eine einzige Party wäre. Nun, im Nachhinein mussten wir unsere Aussagen leicht korrigieren. So weit, so gut. Doch es bot sich damit gleichzeitig die Gelegenheit, überhaupt einmal über das Thema Abitur nachzudenken. Ist das Abitur als Hochschulzugangsberechtigung überhaupt noch zeitgemäß?

Klar ist, dass sich das deutsche Hochschul- und Bildungssystem im Umbruch befindet, nicht nur in Baden-Württemberg. Studienpioniere, also Studierende, deren Eltern keine Akademiker sind, strömen an die Hochschulen; auch viele Studienanfänger ohne allgemeine Hochschulreife kommen an unsere Universitäten. Als Liberaler empfinde ich das als eine gute Nachricht, denn seit jeher setzen wir uns dafür ein, dass unser deutsches Bildungssystem durchlässiger wird und jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, seine Ziele zu erreichen. Ein Hauptschulabschluss darf keine Endstation sein, wenn der Wille besteht, Universitätsprofessor zu werden. Und das ist die Krux. Gerade hier in Deutschland ist man oft zu abschlussfixiert, sodass ein Abitur und ein anschließendes Studium als der einzig heiligmachende Weg erscheint. Dass das die Ausbildung abwertet und zu einer Art zweite Wahl degradiert, nehmen wir dabei billigend in Kauf. Doch es muss uns Liberalen darum gehen, dass wir die Talente in jedem Kind entdecken und es optimal auf seine Fähigkeiten vorbereiten. Flügel heben, metaphorisch gesagt.

Mit dieser Erkenntnis muss man nun auch an das Abitur ran. Wie kann überhaupt ein Abschluss eine Hochschulzugangsberechtigung sein, wenn es sechzehn unterschiedliche davon gibt, teils mit erheblichen Qualitätsunterschieden? Gibt es überhaupt eine wirkliche Anrechenbarkeit oder lähmt sich Deutschland nicht eher selbst durch den Bildungsföderalismus? Was sagt das über unsere Politik aus, wenn es der Bund nicht einmal schafft, bundesweit Gelder zu verteilen und das Kooperationsverbot abschafft? Natürlich finde ich Wettbewerb gut, doch dieser muss entstehen zwischen den Bildungskonzepten, nicht zwischen willkürlichen Landesgrenzen. Schon heute beschweren sich viele Professoren über die unterschiedlichen mitgebrachten Kenntnisse aus der Schule. Für die einen muss im BWL-Studiengang wieder beim Bruchrechnen angefangen werden, die anderen lösen im Schlaf Integrale. So kann man kein gleiches Tempo finden.

Wir müssen uns also die Frage stellen, warum Hochschulen nicht selber festlegen können, wer bei ihnen studieren kann – auch ohne Abitur. Ist es nicht der liberalere Weg, den Hochschulen die Freiheit zu lassen, sich ihre zukünftigen Absolventen nach eigenen Kriterien auszusuchen? Denn wer beispielsweise Medizin studieren will, der muss heute schon zu einem großen Teil eine sehr gute Abiturnote mitbringen, um überhaupt berücksichtigt zu werden. Zwar soll das NC-Verfahren teilweise abgeschafft werden, nachdem dieses System durch eine Klage eines Studenten erheblichen Schaden genommen hatte. Aber man sollte weiter, ja, neu denken. Wieso sollte nicht auch jemand mit einer mittleren Reife, der aber schon als Pfleger gearbeitet hat oder im Krankenhaus tätig war, einen Studienplatz für Medizin bekommen können? Wieso sollte nicht das Ehrenamt, das Engagement für die Gesellschaft und das Einsetzen für bestimmte studienrelevante Themen höher bewertet werden als eine bloße Note, die sich aus Schulaufgaben und Tests über Stoff zusammensetzen, den man im Zweifel nie wieder braucht? Medizin war hier nur ein Beispiel. Natürlich gilt das gleiche auch für BWL, Jura, Sinologie oder Soziologie. Denn der beste angehende Akademiker ist der, der Interesse am Fach hat, über den Tellerrand schauen möchte, sich mit der Fachliteratur beschäftigen will. Nicht der, der qua guter Note einen bestimmten Abschluss machen möchte, weil dieser gut im Lebenslauf aussieht.

Ich glaube, dass wir vor einer Entscheidung stehen. Wollen wir das Abitur als Hochschulzulassungsberechtigung behalten, dann muss das System reformiert werden. Ein nationaler Bildungsrat, wie ihn die Bildungsministerin fordert, aber schon heute an den starken Verbänden im Bildungsbereich scheitert, könnte Mindestanforderungen für das Abitur formulieren und Grundaufgaben für die Prüfungen herausgeben. Oder gleich ein Zentralabitur einführen, sodass echte Vergleichbarkeit herrschen könnte. Dabei müssen wir klar das anspruchsvollste Abitur als Maßstab nehmen, sodass Bremen, Berlin, aber auch Baden-Württemberg in ihren Lehrplänen nachziehen müssen. Das Abitur würde damit sogar aufgewertet werden.

Oder machen wir weiter so und schaffen das ganze Abitur als Zulassungsvoraussetzung einfach ab. Dann würden wir den Hochschulen mehr Freiheit lassen und eine Auswahl nach Anforderungen der Studiengänge vor Ort ermöglichen. Wie wir uns auch immer entscheiden — tun müssen wir etwas. Lasst uns damit heute anfangen!


Johannes A. Dallheimer ist Bundesvorsitzender der Liberalen Hochschulgruppen.