[Juliette 3/2018] – Gruß aus der digitalen Zukunft

Estland. Das Land gilt als digitaler Vorreiter in Europa und ist laut Wired die „modernste digitale Gesellschaft der Welt“. Internet ist hier ein Grundrecht.

Doch warum ist das so? Warum ist dieses kleine Land im Norden Europas eine so erfolgreiche digitale Gesellschaft?

Als Estland im Jahr 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, war es nach Jahrzehnten sowjetischer Besetzung knapp an allem. Doch die Politiker von damals erkannten, dass Estland nur dann eine Chance hat, wenn es ambitioniert und vor allem digital in die Zukunft geht.

Estland war und ist ein Land mit gerade mal 1,3 Millionen Einwohnern und außerhalb der größeren Städte nur dünn besiedelt. Das Land konnte es sich schlicht nicht leisten, an allen Orten Behörden einzurichten oder Beamte zu entsenden. Es musste also einen Weg finden, dass seine Bürger Dienstleistungen auf bequeme Weise vom Computer zu Hause aus erledigen konnten.

Ab 1991 baute Estland daher eine komplett neue Verwaltung auf, dessen Fokus von Anfang an auf digitalen und IT-freundlichen Lösungen lag.

Erste Anschlüsse wurden im Jahr 1992 in Bildungseinrichtungen in Tallinn und Tartu verlegt.

1996 startete ein Programm, das bis zum Jahr 2000 alle estnischen Schulen mit Computern und Internetzugang ausstattete. Fächer wie Robotik und Programmieren gehören heute zum Standard. Bis zum Jahr 2020 sollen alle Schulmaterialien nur noch digital sein.

1997 waren bereits erste e-Governance-Lösungen verfügbar. Das Parlament arbeitet mittlerweile komplett papierlos.

2001 wurde die sogenannte X-Road eingeführt, das Rückgrat der digitalen Gesellschaft Estlands. Dadurch können sich sowohl der öffentliche als auch der private Sektor online vernetzen.

2002 kam die digitale ID. Die persönliche Identifikationsnummer, die jeder Este qua Geburt erhält, ist einer der wichtigsten Punkte für die Digitalisierung. Durch die ID-Karte hat jeder Este Zugang zu allen digitalen Dienstleistungen. Sie macht das Leben einfacher und schneller. Zu einer Behörde gehen und eine Nummer ziehen? Fehlanzeige. Sich ummelden, Ausweis beantragen, Bankkonto eröffnen, eigenes Unternehmen gründen und registrieren, das läuft alles über das digitale staatliche Portal und ist innerhalb weniger Klicks erledigt. Miet- und Arbeitsverträge werden digital unterschrieben. Und auch als Treuekarte im Supermarkt lässt sich die ID-Karte einsetzen. 99% der Dienstleistungen sind online verfügbar und werden über die ID-Karte abgewickelt. Nur heiraten, sich scheiden lassen und das Haus verkaufen kann man nicht online erledigen. Noch nicht.

Seit dem Jahr 2005 können Esten durch das i-Voting ihre Stimme bei Wahlen abgeben. Estland war damit das erste Land der Welt, welches das Wählen per Internet einführte.

96% der Steuererklärungen werden elektronisch gemacht, innerhalb von einer Minute und drei Klicks.

Seit 2008 können Bürger und Ärzte online auf ihre Krankenakte zugreifen. Über 95% der Daten sind digitalisiert. 99% der ärztlichen Rezepte werden online ausgestellt.

Wichtig ist hierbei, dass Bürger stets Einsicht darüber haben, ob und wann jemand auf ihre Daten zugegriffen hat. Verschafft sich jemand unrechtmäßig Zugriff auf diese Daten, kann man genau einsehen, wer das war. Unrechtmäßiger Zugriff steht unter Strafe.

Ebenfalls 2008 wurde in Estland bereits Blockchain eingesetzt. Andere Länder hatten sich damit noch nicht einmal ansatzweise beschäftigt. Estland hat von Anfang an verstanden, dass Cyberattacken immer ein Teil der digitalen Informationsgesellschaft sein werden. Daher gab es seit 2008 verschiedene Testläufe. Seit 2012 wird Blockchain in verschiedenen estnischen Registern genutzt. Estland war damit das erste Land, das Blockchain-Technologie eingesetzt hat.

Im Jahr 2014 erfolgte ein weiterer Meilenstein: Die e-Residency. Eine transnationale digitale Identität, die es auch Nicht-Esten ermöglicht, die öffentlichen e-Services zu nutzen, ein Unternehmen zu gründen und dieses ortsunabhängig und digital zu leiten. Mittlerweile gibt es 40.000 e-Residents aus 155 Ländern und 6.600 Unternehmen, die von e-Residents gegründet wurden.

Während des estnischen Vorsitzes im Rat der EU 2017 wurde das erste Digitale Gipfeltreffen aller EU-Mitgliedsländer einberufen, das nun jährlich stattfindet.

Und Ende 2017 wurde in Luxemburg die erste Datenbotschaft eröffnet. Quasi eine Erweiterung der estnischen Regierung in der Cloud: Der estnische Staat besitzt Server außerhalb seines Staatsgebiets. Als ein Land, das während seiner Geschichte immer wieder von anderen Staaten besetzt wurde, ergibt das nur Sinn. Heutzutage fällt der Feind eben nicht mehr mit dem Panzer ins Land ein, sondern viel eher durch Cyberangriffe im Netz. Durch Daten-Backups außerhalb der Landesgrenzen wäre es dem estnischen Staat in einem solchen Szenario möglich, weiterhin handlungsfähig zu bleiben.

Und das ist noch lange nicht das Ende. In Estland arbeitet man auf Hochtouren an weiteren zukunftsweisenden Ideen. Sei es intelligentes Transportwesen, Verbesserung der Cybersicherheit, grenzüberschreitende Digital Governance, Industrie 4.0 oder die digitale Transformation.

Für manch einen mag all das wie eine wunderbare Utopie klingen. Zukunftsmusik. Für uns, die hier in Estland leben, ist all das bereits gelebte Realität.


Katharina Sowa ist ehemalige Pressesprecherin der JuLis Baden-Württemberg und lebt und arbeitet seit über drei Jahren in Estland