[Juliette 1/2019] – Deutsche Psychotherapie in der Krise

Stell dir vor, du brichst dir das Bein. Du gehst zum Arzt, um den Bruch richten zu lassen und einen Gips zu bekommen. „Wir nehmen derzeit keine neuen Patienten an“, wimmelt dich der erste Arzt ab. Der zweite bietet dir immerhin einen Platz auf seiner Warteliste an: „Rechnen Sie mit sechs Monaten Wartezeit“. Ungläubig telefonierst du weitere Praxen ab, doch einen anderen Termin gibt es nicht.

Also wartest du auf den Termin in sechs Monaten. Du hast große Schmerzen und bist in deinem Privat- und Berufsleben stark beeinträchtigt. Statt Verständnis und Mitgefühl bekommst du von deinem Umfeld gut gemeinte Ratschläge wie: „Versuch doch mal, KEIN gebrochenes Bein zu haben. Wenn du nur genug gehst, dann wird es schon wieder.“

Als du nach sechs Monaten endlich mit deinem Arzt im Behandlungszimmer sitzt, erklärt er dir, dass durch die Verzögerung der Behandlung das Problem deutlich schlimmer geworden ist und du mit einer höheren Behandlungsdauer und schlechteren Heilungschancen rechnen musst, als wenn die Behandlung sofort erfolgt wäre.

Was wie ein bisher unveröffentlichter Roman von Kafka klingt, ist bittere Realität für viele Patienten in Deutschland. Nicht bei Knochenbrüchen, sondern bei psychischen Erkrankungen. Auf eine ambulante Psychotherapie wartet man im Durchschnitt 19,9 Wochen, also fast fünf Monate. Nicht nur ist so eine lange Wartezeit für einen kranken Menschen unzumutbar, mit der Wartezeit steigen auch die Risiken einer Verschlimmerung, Verlängerung und Chronifizierung der Erkrankung.

Wie kommt es zu diesen Zuständen? Das Problem findet sich in der sogenannten Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung – alias Planwirtschaft. Um mit Kassenpatienten abrechnen zu können, braucht ein psychologischer Psychotherapeut einen Kassensitz. Hierzu muss sein Antrag von einem Zulassungsausschuss des Planungsbereichs bewilligt werden. Dieser Ausschuss besteht je zur Hälfte aus psychologischen Psychotherapeuten und Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen. Also aus Menschen, die durch ein „Ja“ zum Antrag mehr Konkurrenz bekommen, und Menschen, die den Auftrag haben, Kosten zu drücken. Was könnte da schief gehen?

Der Ausschuss richtet sich bei seiner Entscheidung unter anderem nach den Verhältniszahlen. Diese Verhältniszahlen geben das Zielversorgungsniveau an, also wie das Verhältnis der Anzahl der Psychotherapeuten zu Bewohnern des Planungsbezirks sein sollte.
Obwohl wir uns bei Wartezeiten von fünf Monaten ganz offensichtlich in einer Situation der Unterversorgung befinden, ist in den meisten Regionen das Zielversorgungsniveau erreicht. Wie kann das sein? Ganz einfach: 1999 wurde ermittelt, auf wie viele Bewohner ein Psychotherapeut kommt und dieses Verhältnis dann als Zielversorgungsniveau festgelegt. Unabhängig davon, ob damit der damalige Bedarf gedeckt war.

Diese von Grund auf fehlerhafte System wird den Patienten nicht gerecht und es muss dringend etwas geschehen. Drei Vorschläge:

1. Die Verhältniszahlen anpassen und Psychotherapeuten zulassen, bis die durchschnittliche Wartezeit unter drei Wochen liegt. Es gibt ausreichend approbierte Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung, um die Versorgungslücke sofort zu schließen.

2. Das komplette System der Bedarfsplanung abschaffen und jedem approbierten Psychotherapeuten die Kassenzulassung unabhängig von der Region geben. Hierdurch könnte es passieren, dass die Städte zeitweise überversorgt und der ländliche Raum unterversorgt sind. Aber der Konkurrenzdruck in der Stadt würde auch Psychotherapeuten aufs Land bringen.

3. Die Anzahl der Patienten durch Prävention reduzieren. Die schwierigste, aber langfristig sinnvollste Methode. Hier ist die Forschung, das Gesundheitssystem, aber auch jeder Arbeitgeber und Bürger selbst gefragt. Man geht davon aus, dass bei den meisten psychischen Erkrankungen sowohl eine genetische Komponente als auch die Umweltbedingungen eine Rolle spielen. Gemeinsam können Lebensumstände geschaffen werden, die weniger Menschen psychisch erkranken lassen.

Erinnert ihr euch an das Beispiel vom Anfang? Nicht nur das Abtelefonieren der Arztpraxen und die lange Wartezeit waren belastend, sondern auch die Kommentare und das mangelnde Verständnis der Mitmenschen. Auch im Jahre 2019 sind psychische Erkrankungen noch mit einem hohen Stigma versehen. Sie werden häufig als Charakterschwäche und nicht als Krankheit ausgelegt. Wissenschaftlich ist diese Sicht absolut nicht haltbar und einer aufgeklärten Gesellschaft stünde es gut an, auch diesen Aberglauben abzulegen.

Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen und der ganze weitere Strauß an psychischen Störungen sind behandlungsbedürftige Erkrankungen, die jeden von uns treffen könnten. Im Laufe eines Jahres weisen alleine in Baden-Württemberg etwa 3.300.000 Menschen Symptome psychischer Erkrankungen auf. Lasst uns diesen Menschen zuhören, sie nicht stigmatisieren, sondern genauso ernst nehmen wie andere Patienten, und geben wir ihnen Zugang zu ärztlicher und psychotherapeutischer Versorgung!


Barbara Eggers ist JuLi-Mitglied in Bayern und studiert derzeit Psychologie an der Universität Bamberg.