[Juliette 3/2019] – Horizon Europe – ein Sieben-Jahres-Plan für die Forschung?

Per scientiam ad iustitiam – diese Worte prangen auf dem Grabstein des 1935 verstorbenen Magnus Hirschfeld in Nizza. Auch wenn der jüdische Arzt und Sexualwissenschaftler sein großes Ziel, die Abschaffung des § 175 StGB, nicht mehr miterleben durfte, leisteten seine wissenschaftlichen Beiträge zur Geschlechterforschung und sein Engagement im Kampf gegen die Unterdrückung homosexueller Menschen entscheidende Pionierarbeit zu Beginn des 20. Jahrhundert. Wissenschaftlicher Fortschritt, egal ob geistes- oder naturwissenschaftlicher Prägung, hat das Potential, gesellschaftliche Gruppen zu entmarginalisieren, todbringende Krankheiten auszurotten und Frieden und Wohlstand auf der Welt zu sichern.

Wissenschaft kennt keine Grenzen – weder im Denken noch auf der Landkarte. Viele erfolgreiche Großforschungsprojekte, wie etwa der gelungene Nachweis der von Albert Einstein postulierten Schwarzen Löcher, wären ohne länderübergreifende Kooperation und Finanzierung undenkbar gewesen. Das aktuelle europäische Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 läuft zum Ende des nächsten Jahres aus. Zu seinem Nachfolgeprogramm Horizon Europe hat sich der Europäische Rat im April 2019 auf einen Entwurf mit den wichtigsten Zielen und Maßnahmen geeinigt. Dieser sieht ein Förderprogramm mit einem Gesamtvolumen von 100 Mrd. Euro für den Zeitraum von 2021 bis 2027 vor, das in drei Säulen mit unterschiedlichen Anliegen gegliedert ist. Im Rahmen der ersten Säule Wissenschaftsexzellenz besteht das Ziel darin, hochqualifizierte Wissenschaftler aller Disziplinen aus der ganzen Welt, deren Tätigkeitsschwerpunkt in der EU liegt, langfristig zu fördern. Alleiniges Auswahlkriterium ist dabei die wissenschaftliche Exzellenz. Über die Vergabe von Fördergeldern entscheidet der Europäische Forschungsrat, der sich aus Wissenschaftlern, Ingenieuren und Akademikern zusammensetzt und von der Europäischen Kommission berufen wird. Demgegenüber steht die Säule Innovatives Europa mit der Aufgabe, gezielt Forschung zu fördern, die wirtschaftlichen Mehrwert und ökonomisches Wachstum hervorzubringen verspricht. Dazu soll ein Innovationsrat mit unabhängigen Mitgliedern geschaffen werden, dessen Aufgabe darin besteht, Sprunginnovationen mit hohem Risiko zu identifizieren und gezielt zu fördern. Darüber hinaus möchte er kleine und mittlere Unternehmen bei der schnellen Expansion unterstützen. Den Löwenanteil des Programms mit einer Fördersumme von 53 Mrd. Euro macht allerdings die Säule Globale Herausforderungen und indus- trielle Wettbewerbsfähigkeit Europas aus. Gebündelt in die fünf Cluster Gesundheit, Inklusion und sichere Gesellschaft, Digitalisierung und Industrie, Klima, Energie und Mobilität sowie Lebensmittel und natürliche Ressourcen sind hier diverse Fragestellungen aufgeführt, zu denen sich die Politik wissenschaftliche Lösungsansätze erhofft und die diese gezielt fördern möchte. Hierzu zählen beispielsweise die Erforschung intelligenter Schifffahrtslösungen oder integrativer Bioökonomiemuster.

Öffentlich finanzierte Forschung befindet sich stets in einem inneren Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Wissenschaft und der Notwendigkeit, sich gegenüber der Gesellschaft zu rechtfertigen und dieser einen größtmöglichen Nutzen zu stiften. Auch wenn das neue Forschungsrahmenprogramm umfangreicher als alle seine Vorgänger werden soll und eine vernünftige Balance der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche vorsieht, zeugt der finanzielle Fokus auf die verschiedenen Cluster mit detailreichen Zielvorgaben von der Vorstellung, dass Forschung politisch gesteuert und deren Output forciert werden könne. Dies bremst nicht nur die Kreativität der Wissenschaftler, sondern generiert auch einen Bewerbungsprozess, an dessen Ende im Zweifelsfall nicht die höhere fachliche Qualifikation, sondern die bessere Adaption an die politisch gesetzten Kriterien das Rennen macht. Die Förderung wirklich visionärer Vorhaben scheitert womöglich daran, dass sie sich keinem der definierten Ziele unterordnen lassen.

Finanzielle Ausstattung alleine wird zudem keine Spitzenforschung hervorbringen, wenn die dafür nötigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fehlen. Zahlreiche junge Menschen, die teilweise bereits sehr gut in der Forschung vernetzt sind und eigene Arbeiten publiziert haben, verlassen trotz ihres Talents und ihrer Motivation nach der Promotion oder bereits nach dem Studium die Wissenschaft und fallen als Ideengeber und Innovationsmotoren in der Forschung aus. Viele dieser Menschen wären gerne langfristig mit der Wissenschaft verbunden geblieben, sehen aber aufgrund der unsicheren Karrierewege und zäher Bürokratie für sich keine Perspektive in der Forschung. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir personalpolitische Hochschulreformen und eine Neujustierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Wirtschaft. Dazu gehören neben längerfristigen Arbeitsverträgen für PostDocs und einer angemessenen Repräsentation des Mittelbaus in den hochschulinternen Entscheidungsgremien auch einen selbstverständlicheren Berufswechsel zwischen Unternehmen und Universitäten. Dies erfordert eine Reduzierung des universitären Beamtenwesens, damit Mitarbeiterstellen in der Forschung flexibler und fachbezogener besetzt werden können. Wir sollten dabei zu der Erkenntnis gelangen, dass eine engere Verzahnung von Industrie und Forschung nicht nur der besseren Verständigung und somit der rascheren Implementierung wissenschaftlichen Fortschritts dient, sondern Voraussetzung dafür ist, dass die Entscheidung talentierter junger Menschen für eine wissenschaftliche Tätigkeit über die Promotion hinaus kein Karriererisiko mehr darstellt. Nur wenn die Wissenschaft als Beschäftigungsfeld attraktiver wird und vielfältigere Perspektiven bietet, wird sie in Zukunft in der Lage sein, im internationalen Vergleich Schritt zu halten.


Moritz Otto ist Kreisprogrammatiker der JuLis Karlsruhe und promoviert derzeit in stochastischer Geometrie am KIT.