[Juliette 4/2019] – JuLis travel to Genf – ein liberaler Ausflug in die Schweiz

Montag, 7 Uhr am Bahnhof Heidelberg: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr kein Problem, so auch für die Mannheimer Jugendoffizierin Siobhán Whelan; für viele JuLis sicherlich etwas früh, aber genau der richtige Ort, um in ein Abenteuer aufzubrechen. Es geht in den Süden, über Karlsruhe und Freiburg zur Schweizer Grenze und dann weiter entlang den Ufern des Genfer Sees. Von dort lässt sich schon aus weiter Ferne die 140 m hohe Wasserfontäne unseres Ziels, Genf, erspähen. Genf wäre mit seinen knapp 200.000 Einwohnerinnen und Einwohnern eigentlich eine recht überschaubare Stadt, wären da nicht die unzähligen internationalen Organisationen, die sich dort niederließen, um die Vorzüge der schweizerischen Neutralität zu genießen. Das macht die Stadt natürlich zu einer Festschmaus für alle außenpolitisch begeisterten JuLis. Leider macht dies die Stadt in der ohnehin schon nicht allzu billigen Schweiz auch teuer. Deshalb gelangen wir nach einer achtstündigen Busfahrt erstmal ins französische Annemasse, wo sich unser Hotel für die kommenden fünf Tage befinden sollte.

Dienstagmorgen ging es dafür direkt nach Genf, zum Palais de Nations, dem europäischen Sitz der Vereinten Nationen und ehemaligen Sitz des Völkerbundes, der Vorgängerorganisation der UNO. Dort tagen unter anderem der Menschrechtsrat und der Abrüstungsausschuss der UN. Das Gebäude selbst entstand in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und beeindruckt mit einer imposanten Säulenarchitektur und zahlreichen Kunstwerken unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise. Außerdem verfügt es über einen hervorragenden und überdies preiswerten Kaffeeautomaten.
Vom Palais de Nations ging es sofort weiter zur Europäischen Organisation für Kernforschung, besser bekannt unter ihrer Abkürzung CERN. Die hat nicht nur eine sehr leckere und für Schweizer Verhältnisse günstige Mensa, sondern auch den größten Teilchenbeschleuniger der Welt. Der Large Hadron Collider (LHC) hat einen Umfang von 27 km und befindet sich zum einen Teil in der Schweiz, zum anderen in Frankreich. Dort werden Protonen und andere Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, um anschließend miteinander zu kollidieren. Dadurch soll der Zustand des Universums unmittelbar nach dem Urknall erforscht und nähere Erkenntnisse über dessen Zusammensetzung gewonnen werden.

Am Mittwoch ging es zum Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nation (UNHCR). Das UNHCR wurde 1950 ursprünglich für lediglich drei Jahre gegründet, um die Flüchtlinge und Vertriebenen des 2. Weltkriegs zu unterstützen. Doch es sollte auch danach zu Kriegen und Konflikten kommen, die unzählige Menschen zwangen, ihre Heimat zurückzulassen. Allein im Jahr 2015 waren über 57 Millionen Menschen auf der Flucht. Das UNHCR versorgt diese Menschen und bietet ihnen Obdach. Es unterstützt bei der Rückkehr in die Heimat, sofern es dort wieder sicher ist oder siedelt Flüchtlinge im Rahmen des Resettlements in aufnahmebereite Staaten um.

Mit (noch) 28 Mitgliedstaaten, einem nominalen BIP von ca. 17,5 Mrd. US-Dollar und 512 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die Europäische Union der größte Binnenmarkt der Welt. Doch in Europa gibt es noch eine weitere Freihandelszone, die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) und auch die hat – ihr ahnt es – ihren Sitz in Genf. Werfen wir also mal einen Blick auf die „Konkurrenz“. Im Gegensatz zum pompösen Sitz der EU-Kommission in Brüssel, besteht das EFTA-Sekretariat in Genf nur aus einer Etage eines mehrstöckigen Gebäudes. Heutzutage hat die EFTA nur noch vier Mitglieder, Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Ehemalige Mitgliedstaaten wie Dänemark, Finnland, Österreich, Portugal und das Vereinigte Königreich sind mittlerweile der EU beigetreten. Drei der vier EFTA-Staaten – ausgenommen hat sich wie so häufig die Schweiz – bilden gemeinsam mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Im EWR gelten wie auch in der EU die vier Grundfreiheiten, d.h. der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Dies wird durch eine enge regulatorische Bindung der EWR-Staaten an das Europarecht möglich. In vielen Politikbereichen müssen diese die Richtlinien und Verordnungen der EU übernehmen. Überwacht wird dies nicht von der EU, sondern von der EFTA selbst, die hierzu einen eigenen Gerichtshof errichtet hat.

Am Donnerstag ging es nach einem längeren Aufenthalt in der Genfer Innenstadt vorbei an den Kundgebungen der bolivarischen und iranischen Opposition vor dem UN-Hauptquartier zum Sitz des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC). Das ICRC wurde 1863 vom Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant gegründet, nachdem er als Zeuge der Schlacht von Solferino mitansehen musste, wie die zahlreichen Verwundeten der blutigen Schlacht keine oder nur eine völlig unzureichende medizinische Versorgung erhielten. Von Beginn an verpflichtete sich das ICRC zu politischer Neutralität. Allen Verletzten sollte geholfen werden, unabhängig davon, welcher Kriegspartei sie angehörten. Dadurch gelingt es dem ICRC, selbst in entlegene und schwer zugängliche Gebiete wie Nordkorea oder vom Daesh kontrolliertes Territorium zu gelangen.

Das ICRC kümmert sich jedoch nicht nur um die Versorgung von Verwundeten in Konflikt- und Krisenregionen, sondern engagiert sich auch für die Einhaltung und Weiterentwicklung des Kriegsrechts. Dieses ist insbesondere in den Genfer Konventionen kodifiziert und reguliert die Art der Kriegsführung, indem es bestimmt, welche Personen und Objekte mit welchen Mitteln angegriffen werden dürfen und gleichzeitig bestimmte Personengruppen wie Verwundete und Nicht-Kombattanten (Zivilisten) und zivile Infrastrukturen schützt.

Am letzten Abend ging es schließlich ins Café de la Presse zu einem Treffen mit dem Kreisverband Genf der Jeunes Libéraux-Radicaux (deutsch: Jungfreisinnige). Die befanden sich zu diesem Zeitpunkt mitten im Nationalratswahlkampf – nicht nur für ihre Mutterpartei, FDP. Die Liberalen – sondern auch für sich selbst. Denn in der Schweiz sind die Jugendorganisationen der Parteien, selbst Parteien und stellen eigene Kandidaten auf. Stimmen, die der Jugendpartei nicht zu einem Mandat verhelfen, wandern dabei automatisch zur Mutterpartei.

Unter dem Genuss von Wein und Fondue gab es jedoch eine Frage, die uns besonders unter den Nägeln brannte: Wie halten es die Jungfreisinnigen eigentlich mit der EU und unserer Vision eines Europäischen Bundesstaates? Das lässt sich leider nicht eindeutig beantworten. Die Schweizer FDP wurde in der Vergangenheit für ihren eher proeuropäischen Kurs von den Wählerinnen und Wählern abgestraft und ist in der Folge deutlich zurückhaltender geworden. Viele Jungfreisinnige zeigen Sympathien für einen europäischeren Kurs, ohne jedoch die EU-Mitgliedschaft zu fordern. Überhaupt gibt es eine Sache, bei der die Schweizer kompromisslos bleiben: die berühmte Schweizer Neutralität wollen sie niemals aufgeben.

Hätte man mich vor der Reise nach Genf gefragt, wie ich selbst die Schweizer Neutralität beurteile, hätte ich nur auf die Vorteile für die Schweiz selbst verwiesen. Doch heute muss ich eingestehen, dass diese Neutralität und die damit verbundene Anerkennung eines liberalen westlichen Landes als unparteiischer und unabhängiger Mittler sowie als Sitz von neutralen Organisation wie dem ICRC, eine nicht zu unterschätzende, vielleicht sogar eine essentielle Ergänzung zu Staaten wie Deutschland und den USA ist, die klar Partei ergreifen (sollten), um Freiheit und Frieden in der Welt zu fördern.

Mit diesem persönlichen Fazit ging es für mich wie auch für viele weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder in den Norden, zum 59. Bundeskongress der Jungen Liberalen nach Oldenburg.


Nemir Ali ist stellvertretender Landesvorsitzender für Programmatik der JuLis Niedersachsen.