[Juliette 2/2020] Wir müssen Ängste abbauen, anstatt mit ihnen zu spielen

Es war der Abend des 19. Dezember 2016, an dem ein junger Tunesier namens Anis Amri den schwersten islamistischen Terroranschlag in der Geschichte unseres Landes beging. Mit einem Sattelschlepper fuhr er über den Weihnachtsmarkt auf den Berliner Breitscheidplatz. Er tötete zwölf Menschen und verletzte viele weitere Anwesende zum Teil lebensbedrohlich. Auch viele Besucher des Weihnachtsmarktes, die zwar nicht körperlich verletzt wurden, aber als Augenzeugen und Ersthelfer schreckliche Momente erleben mussten, leiden bis heute unter den Folgen dieses Abends.

Terror hat nicht nur massive Auswirkungen für diejenigen, die unmittelbar mit ihm konfrontiert werden, sondern auf uns alle und unser gesellschaftliches Miteinander. Nachrichten von Anschlägen verbreiten sich in den Zeiten moderner und digitaler Kommunikation rasend schnell. Fotos, Videos und Livestreams von den Tatorten sind binnen Minuten im Netz, auf Twitter und Co. zu finden. Terroristen wie die rechtsextremen Attentäter im neuseeländischen Christchurch oder in Halle an der Saale streamten ihre Taten live im Netz. Nachrichtenportale greifen die Meldungen weltweit auf. Wir nehmen die Taten heute schneller, deutlicher und häufiger wahr als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Für Terroristen ist das ein Segen, denn sie wollen Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten. Diese Strategie hat traurigen Erfolg. 59 Prozent der Deutschen haben Angst, irgendwann Opfer eines Terroranschlags zu werden. Diese Angst besteht ganz unabhängig von der Tatsache, dass es um ein Vielfaches wahrscheinlicher ist, von einem Blitz getroffen zu werden, einen Unfall im Haushalt zu haben oder an einer Grippeerkrankung zu versterben. Gleichzeitig sind die Opferzahlen bei Terroranschlägen in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt gesunken.

In dieser Situation dürfen verantwortungsvolle Politiker nicht die Sorgen und Ängste der Bevölkerung vor terroristischen Bedrohungen ausnutzen, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen. Ein klassischer Fall ist der Ruf der CDU und CSU nach einer weitgehenden Vorratsdatenspeicherung, die von meinen Unionskollegen im Innenausschuss des Bundestages auch nach den rechtsextremen Anschlägen des vergangenen Jahres zum x-ten Mal erhoben wurde. Wie die – aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrige – Vorratsdatenspeicherung die Anschlägen in Kassel und Halle verhindert hätte, konnten die Kollegen mir zwar nicht erklären, aber Öffentlichkeit täuschen sie genau das vor. Wer aber suggeriert, dass man durch einfache Maßnahmen Terrorismus verhindert, spielt mit den Sorgen der Menschen.

Die Aufgabe der Politik in einem demokratischen Rechtsstaat muss es vielmehr sein, die Bevölkerung zu schützen, ohne hundertprozentige Sicherheit zu versprechen und bürgerliche Freiheiten dafür vorschnell zu opfern. Ein Beispiel ist die seit Jahren verschleppte Debatte über die deutsche Sicherheitsarchitektur. Zum islamistischen Anschlag von Berlin konnte es vor allem deshalb kommen, weil der sehr mobile und vernetzte Anis Amri immer wieder seinen Lebensmittelpunkt verlagerte. Mit Amris Wohnortwechseln von NRW nach Berlin wechselte auch die Zuständigkeiten der Sicherheitsbehörden hin und her. Solche Situationen sind ein Beispiel für ein riesiges Kompetenzchaos, das dringend durch eine Strukturreform der föderalen Sicherheitsarchitektur entflochten werden muss.

Als Innenpolitiker ist mir wichtig, dass wir auf die vorhandenen Ängste vor Terror richtig reagieren. Erstens müssen wir ehrlich sein und den Menschen eines deutlich machen: Es ist sehr unwahrscheinlich, von Terror getroffen zu werden, aber absolute Sicherheit kann es niemals geben. Zweitens müssen wir den Rechtsstaat und unsere Sicherheitsbehörden ohne Showforderungen, sondern durch konstruktive Reformen noch besser gegen terroristische Bedrohungen aufstellen. Eine solche Politik baut Ängste ab, anstatt mit ihnen zu spielen.


Benjamin Strasser MdB ist zuständig für innenpolitische Themen in der FDP-Bundestagsfraktion.