[Juliette 3/2020] Antisemitismus in Deutschland

„Wie, du bist jüdisch? Du siehst gar nicht so aus!“ Und es herrscht Verwirrung, denn diese Bilder passen nicht mit der vor einem stehenden Person zusammen. Bilder von Konzentrationslager-Häftlingen, von ultra-orthodoxen Männern mit langen Bärten und Schläfenlocken oder von Benjamin Netanjahu erscheinen vor dem inneren Auge, wenn man das Wort „Jude“ hört. Und weiter „Sag mal, wie lebt es sich als Jüdin in Deutschland? Hast du auch schon mal Antisemitismus erlebt?“

Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer Begriffsanalyse vorab. Der Begriff „Antisemitismus“ erweckt den Anschein einer wissenschaftlichen Theorie. Obgleich dieser Begriff im 19. Jahrhundert von Judenfeinden geschaffen wurde, um mit ihm für Judenhass zu werben, handelt es sich heute dabei um eine „bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.

Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“, erklärt die International Holocaust Remembrance Alliance. Diese sogenannte IHRA-Arbeitsdefinition führt weiter Beispiele auf, die verdeutlichen, wie und auf welche Weise sich Antisemitismus äußert. Soweit zur Theorie, aber wie steht es um die Praxis – dem Alltag in Deutschland?

Jedes jüdische Kind, das sich als „Jude outet“, hat Antisemitismus erfahren! Seien es unangebrachte Witze über die Shoa, Beleidigungen, Drohungen oder gar körperliche Auseinandersetzungen. Die jüdische Oberschule in Berlin nimmt jährlich jüdische Schülerinnen und Schüler auf, die aufgrund von Antisemitismus-Erfahrungen an einer öffentlichen Schule nicht mehr zur Schule gehen können. Denn die Schulleitung dort ergreift keine konsequenten Maßnahmen, die Lehrkräfte sind nicht im Stande dazu, sensibel mit dem Thema umzugehen, ein differenziertes Bild jüdischen Lebens in Deutschland aufzuzeigen und die Lehrbücher sind teilweise mit Antisemitismus-streuenden Inhalten gefüllt, die jüdische Menschen im besten Fall als Fremde und Exoten und im schlimmsten Fall in unkommentierten Stürmer-Karikaturen portraitieren.

Antisemitismus ist keine Form der Fremdenfeindlichkeit, denn Jüdinnen und Juden sind keine Fremde in Deutschland! 2021 feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Jüdisches Leben ist auf diesem Boden älter als die Bundesrepublik! Deutschland hat als Standort eine enorm wichtige Rolle für die Entfaltung des modernen Judentums weltweit gespielt – die moderne Orthodoxie, sowie das liberale Judentum sind hier entstanden. Spricht man also über „deutsche Juden“ oder „jüdisches Leben in Deutschland“ lohnt ein Blick in die Vergangenheit außerhalb der Jahre 1933-1945. Zahlreiche jüdische Wissenschaftler, Politiker und Kulturschaffende prägten unser Land.

Als aber 2014 auf offener Straße „Kindermörder Israel“ skandiert wurde, hatten sich viele jüdischen Bürger erstmals erneut die Frage gestellt, ob es noch sicher sei, in Deutschland zu leben. Im letzten Jahr kam es zum antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle, in diesem Jahr zu mehreren Übergriffen auf Jüdinnen und Juden im gesamten Bundesgebiet. Es ist zutiefst beschämend, dass nur zwei Generationen nach dem in Deutschland das größte Verbrechen der modernen Menschheitsgeschichte – die Shoa – begangen wurde, es erneut zu antisemitischen Anfeindungen und Anschlägen auf jüdische Menschen in Deutschland, zu Schlussstrichdebatten und Shoaleugnungen kommt.

Antisemitische Verschwörungserzählungen finden ihre Verbreitungen im Netz und durch die Corona-Demonstrationen auch zunehmend wieder auf offener Straße. Dabei bedienen sich rechte, linke oder islamistische Antisemiten oft ähnlicher Erzählungen, Mythen und Bildern. Beispielsweise die Vorstellung davon, dass es eine privilegierte Elite gäbe, die die Welt beherrschen und die Völker in seine Abhängigkeit drängen wolle. Diese Elite kontrolliere die Medien, ziehe Strippen hinter der Weltpolitik und möchte all denjenigen, die das „System“ durchschaut hätten den Mund verbieten. In diesem Zusammenhang tritt oft das Bild einer Krake, einer Spinne oder eines Strippenziehers auf. In linken Kreisen geht damit eine vermeintliche Kapitalismuskritik einher, in rechten Kreisen spricht man von dem „Bevölkerungsaustausch“ – dem scheinbaren Ziel das christliche Abendland zu zerstören und die „weiße“ Bevölkerung zu ersetzen.

Der historische Antijudaismus, den insbesondere Martin Luther schärfte, richtet sich gegen das Judentum als Religion. In seinen „Judenschriften“ warb Martin Luther dafür, die Teufelsanbeter und Heilandsmörder (Jüdinnen und Juden) zu bestrafen. Diese Schriften fanden im Nationalsozialismus ihr Revival und waren dienlich für die entmenschlichende Entwicklung des Rasseverständnisses. Juden als Parasiten, als Unheilsbringer. „An allem sind die Juden schuld“ sang 1931 der Komponist und Satiriker Friedrich Holländer – seither hat sich wenig geändert.

Bezogen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt hört man zu Häufen: „Was ihr Juden da unten mit den Palästinensern macht, ist ja nicht besser als das, was die Nazis mit Euch gemacht haben“ oder „gerade die Juden müssten es doch besser wissen“. Unabhängig davon, wie man zur Innenpolitik des Staates Israel steht, wird mit Aussagen, wie diesen zum einen die Shoa verharmlost, zum anderen eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben und schließlich Juden für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht. „Meine“ Regierung ist in erster Linie die Deutsche, nicht die israelische.

Wie es sich als Jüdin in Deutschland lebt? Hinuntergerissen zwischen der Sorge sicher zu sein, auf das „Jüdischsein“ reduziert zu werden und dem Wunsch mitgestalten und sich einbringen zu wollen. Es kann nicht sein, dass Jüdinnen und Juden im Jahre 2020 nicht sicher in Deutschland leben können!


Anna Staroselski ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) und Mitglied der JuLis Berlin.