[Juliette 3/2020] Antiziganismus im Alltag

Antiziganismus ist eine Form des Rassismus und von Diskriminierungspraktiken, die sich gegen Menschen mit Romani-Hintergrund richten. Antiziganismus wirkt sich zum größten Teil auf Bereiche aus, wie Wohnen, Arbeit, Gesundheit und Bildung. Laut der Leipziger Autoritarismus Studie von 2018 möchte über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland nicht neben Sinti und Roma wohnen. Dies führt zu Benachteiligung von Menschen mit Romani-Hintergrund auf dem Wohnungsmarkt. Genauso verhält es sich beispielsweise bei der Arbeitssuche oder in Ausbildungsplätzen. Viele junge Menschen brechen die Ausbildung aufgrund von Diskriminierung ab (Bildungsstudie 2011).

Antiziganismus wirkt sich auch auf die Bildungssituation aus. Nach dem Völkermord waren die wenigen Überlebende zumeist sehr jung und hatten aufgrund des teilweisen Schulverbots und der langen Inhaftierung in Konzentrationslagern keine Schule besuchen können. Dieses Bildungsdefizit aufzuarbeiten, beschäftigt auch heute noch die Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma.

Antiziganismus führt leider auch zu Gewalt, wie kürzlich der Fall in einem Dorf in der Nähe von Ulm aufgezeigt hat. Fünf junge Erwachsene warfen 2019 eine brennende Fackel auf eine Unterkunft von französischen Staatsbürgern, die der Minderheit angehören. Das LKA, die Staatsanwaltschaft und das Gericht betonten während der Ermittlung bzw. des Prozesses den antiziganistischen Tathintergrund. Die Täter wurden wegen gemeinschaftlicher schwerer Nötigung (Vertreibung) verurteilt.

Der Begriff Antiziganismus stammt aus den 1920er Jahren und wurde in Deutschland von der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in den 1980er Jahren eingeführt. Die Minderheit kämpfte unter anderem für die Anerkennung als Opfer des NS-Regimes und für eine Beendigung der Sondererfassung durch die Polizei. Erst 1982 wurden Sinti und Roma von der Bundesregierung als Opfer des Holocaust anerkannt. Das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas entstand 2012 in Berlin, nachdem die Bürgerrechtsbewegung dies mit Nachdruck eingefordert hatte. In der frühen Bundesrepublik teilten Behörden, aber auch der Bundesgerichtshof die im Nationalsozialismus vorherrschende Ansicht, dass Menschen mit Romani-Hintergrund per se kriminell seien und die Verfolgung durch das Nazi-Regime zumindest bis 1942 legitim gewesen sei. Für dieses Urteil von 1956 entschuldigte sich der BGH 2016.

Die Sensibilisierung von Politik, Behörden und Einrichtungen des öffentlichen Lebens sind ein ständiger Teil unserer Arbeit. In Baden-Württemberg hat der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg (VDSR-BW) gemeinsam mit der Landesregierung ein Pilotprojekt entwickelt. Der erste Staatsvertrag wurde 2013 zwischen der Landesregierung und dem VDSR-BW für die Dauer von fünf Jahren abgeschlossen. Da sich dieser bewährt hat und im Europäischen Parlament als „best practice“ gilt, wurde der Vertrag 2018 für die Dauer von 15 Jahren erneut abgeschlossen.

In dem Staatsvertrag verpflichtet sich das Land, die Förderung und den Schutz der Minderheit (finanziell) zu unterstützen. Dies beruht auf dem Bewusstsein geschichtlicher Verantwortung und der Anerkennung der Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen.

Im Vertrag werden Aufgaben und Ziele festgelegt, beispielsweise in der Bekämpfung und Erforschung des Antiziganismus, Förderung von Bildungsteilhabe, Beratung und Förderung der Sprache und Kultur. Das gilt auch für zugewanderte Menschen mit Romani-Hintergrund.

In Baden-Württemberg wurde mit dem Staatsvertrag auch ein Rat für die Angelegenheiten Deutscher Sinti und Roma etabliert. Hier treffen sich regelmäßig Vertreter*innen der Politik, Ministerien, Kommunen und Vertreter*innen der Minderheit, um aktuelle Entwicklungen und Probleme auf Augenhöhe zu besprechen.

Der neue Schwerpunkt der EU-Rahmenstrategie bis 2030 liegt auf der Gleichberechtigung, Inklusion und Partizipation von Menschen mit Romani Hintergrund. Projekte sollen gemeinsam und auf Augenhöhe mit Menschen mit Romani-Hintergrund entwickelt und in Gang gesetzt werden. Viel zu oft scheitern Projekte, weil sie am Kernproblem vorbei gehen oder weil bestimmte Diskriminierungsaspekte nicht berücksichtigt werden.


Chana Dischereit ist wissenschaftliche Referentin im Verband Deutscher Sinti und Roma des Landesverbands Baden-Württemberg.