[Juliette 1/2021] Bildung in Baden-Württemberg

Ein Doppelinterview mit Irene Schuster (Landtagskandidatin im WK Tübingen) und Timm Kern MdL.

Auf einer Skala von 1-10, wie gut steht Baden-Württemberg im Bereich Bildung gerade da?

Schuster: Je nach Bildungseinrichtung unterschiedlich, daher wähle ich 5 als Mittelwert.

Kern: Zwischen 3 und 4. Die Landesregierung macht viel zu wenig aus dem Potenzial unserer vielfältigen Bildungslandschaft. Es fehlen eine auskömmliche Ausstattung, Innovation bei der Personalgewinnung und Entscheidungsfreiheit für die Menschen vor Ort. Leider zeigen das auch die Vergleichsstudien, in denen Baden-Württemberg in den letzten Jahren immer weiter abgerutscht ist.

Was sind die größten Versäumnisse der Landesregierung im Bereich Bildung in der letzten Legislaturperiode?

Schuster: Es ist zu kurz gegriffen lediglich die Versäumnisse der letzten Legislaturperiode zu betrachten. Baden- Württemberg ist seit zwanzig Jahren auf dem Abwärtstrend. Der Modernisierungs- versuch eines traditionellen Schulsystems scheiterte und die Reformen waren zahlreich, jedoch mitunter falsch und die Umsetzung mangelhaft. Eine Kultur des systematischen Hinschauens konnte nicht etabliertwerden.

Kern: Ganz klar die digitale Ausstattung der Schulen sowie fehlende Konzepte für eine Bildungsgarantie in Pandemiezeiten. Die Bildungsplattform „ella“ ist krachend gescheitert, Millionen an Steuergeldern wurden verbrannt und Kitas und Schulen bei FFP2-Masken, Luftfiltern und wirksamen Hygienekonzepten in weiten Teilen alleine gelassen.

Wenn Sie ein Bildungssystem auf der grünen Wiese entwerfen könnten, wie würde das aussehen?

Schuster: “Nicht die eine Schule für alle, sondern für jedes Kind die Passende.” Es gilt die Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit zu vereinfachen und die Grundlagen für lebenslanges Lernen möglist früh zu verankern. Viele Anregungen können dem Trendguide “Schulen der Zukunft” von Dr. Daniel Dettling und der Hattie-Studie entnommen werden.

Kern: Mein liberales Bildungssystem würde sich durch kreative, entscheidungsfreudige Pädagoginnen und Pädagogen in Kitas und Schulen auszeichnen, die die vielfältigen Potenziale durch ein passgenaues Angebot zur Entfaltung bringen. Das Land würde viel pädagogische Freiheit gewähren und eine solche personelle, bauliche und digitale Ausstattung zur Verfügung stellen, die dem Megathema „Bildung“ deutlich mehr Priorität einräumt, als heute

Wenn Sie morgen Kultusminister werden würden, was wäre das Erste, was Sie ändern würden?

Schuster: Die Corona-Pandemie fungiert als Brennglas. Viele Missstände werden offen gelegt. Aktuell ist es unabdingbar Bildung digitaler, vernetzter und individueller zu gestalten und insbesondere diejenigen zu unterstützen deren Bildungserfolg aufgrund von sozioökonomischen Faktoren nicht glücken kann.

Kern: Die Sommerferien-Arbeitslosigkeit von befristet angestellten Lehrkräften würde ich abschaffen, die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung wieder einführen und eine Positivliste mit digitaler Hard- und Software zur Verfügung stellen, aus der jede Bildungseinrichtung das für sie passende Angebot auswählen können.

Für die FDP ist es besonders wichtig, die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems zu erhalten, warum eigentlich? Was macht dieses System so erfolgreich?

Schuster: Schule muss vom Kind her gedacht werden. Da die Kinder verschiedene Begabungen, Stärken und Schwächen haben, ist eine Differenzierung erforderlich. In homogenen Lerngruppen wird ein größerer Bildungserfolg erzielt.

Kern: Ein vielfältiges Schulwesen bringt die vielfältigen Potenziale junger Menschen am besten zur Entfaltung. Wir brauchen die passende Schule für jedes Kind – und eben nicht die „eine-Schule-für-alle“. Zentral ist dabei die Durchlässigkeit zwischen den Schularten! Jeder erreichte Abschluss muss die Tür zu weiteren Abschlussmöglichkeiten öffnen.

Sollten Schüler iPads oder Laptops anstelle von Papier verwenden?

Schuster: Die Handschrift ist eine wichtige Kulturtechnik. Handschrift ist Hirnschrift, da die Erinnerungsleistung besser ist. Zudem regt es die eigene Vorstellungskraft und Kreativität an. IPad und Papier sind keine Kontrahenten, sondern können sich sinnvoll ergänzen.

Kern: Digitale Anwendungen sind kein Selbstzweck, sie können den Unterricht aber enorm bereichern. Ich durfte bei einem Schulbesuch beispielsweise die Möglichkeiten des Biologieunterrichts durch eine 3D-Brille erfahren. So konnte ich die Fotosynthese innerhalb eines Blattes „miterleben“. Entscheidend ist der sinnvolle Einsatz verschiedener Lernmittel, damit die richtige Form für den entsprechenden Inhalt gefunden wird.

Wir haben schon vor der Pandemie oft von der Digitalisierung der Bildung gesprochen. Was muss passieren, damit diese Vision langfristig Wirklichkeit wird?

Schuster: Die Transformation hat erst begonnen. Wir benötigen Digitalkonzepte für alle Bildungseinrichtungen, um feststellen zu können, welche Technologien und Ausstattungen vonnöten sind und wie viel Geld wir hierfür in die Hand nehmen müssen. Die Mittel des Digitalpakts müssen – mit weniger Bürokratieaufwand – ausgeschöpft werden. Uns fehlt die Infrastruktur für die Digitalisierung, sei es hinsichtlich Datenautobahnen, bezüglich der Schulungen des Bildungspersonals oder der zur Verfügungstellungen von Endgeräten.

Kern: Baden-Württemberg blamiert sich als Hightech-Industrieland bis auf die Knochen, weil es versäumt wurde, jede Bildungseinrichtung mit Gigabit-Internet auszustatten. Neben einer umfassenden Fortbildungspflicht für alle Lehrkräfte bei digitalen Anwendungen braucht es eine Positivliste aus datenschutzkonformer, nutzerfreundlicher Soft- und Hardware, aus der die Schulen aussuchen können, was für sie passt.

Die Pandemie hat extreme Verwerfungen im Bildungssystem verursacht. Was muss jetzt getan werden, um den Schaden möglichst gering zu halten?

Schuster: Wir brauchen Konzepte, um den Zugang zur Bildung für alle (wieder) zu ermöglichen und dürfen uns nicht damit zufrieden geben die Strukturen aufrechtzuerhalten die Bildungsverlierer generieren.

Kern: Wir brauchen eine Bildungsgarantie in Pandemiezeiten, damit ein verlässliches Bildungsangebot unter Berücksichtigung der Infektionslage vor Ort geschaffen wird. Dies können Fernunterricht für höhere Klassen, aber auch Präsenzformen in kleineren Gruppen bei Kitas und Grundschulen mit Luftfiltern und Masken sein. Die Entscheidung sollte vor Ort mit Blick auf die jeweilige Lage und nicht pauschal auf einer nicht-öffentlichen Konferenz zwischen Bund und Ländern getroffen werden.

Die Pandemie hat die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem überdeutlich gemacht. Was kann man tun, damit jedes Kind eine faire Chance hat?

Schuster: Das Recht auf Bildung ist Menschenrecht. Bildungsgerechtigkeit beinhaltet vier Dimensionen: Bildung gewährleistet Zugang zum Arbeitsmarkt, eröffnet Chancen im Wettbewerb um attraktive soziale Positionen, ermöglicht politische Partizipation und ist eine wichtige Voraussetzung für Autonomie. Folgendes führt zu mehr Chancengerechtigkeit: Fairness im sozialen Wettbewerb, eine angemessene Grundbildung die obige Dimensionen für alle inkludiert, Personen mit gleicher Leistungsfähigkeit und – bereitschaft sollen, ungeachtet ihrer Herkunft, Zugang zu den für sie passenden Bildungsangebotenhaben.

Kern: Viele Kinder und Jugendliche aus finanziell prekären Verhältnissen brauchen den menschlichen Kontakt, die Unterstützung und Struktur von Bildungseinrichtungen, damit sie ihre Talente auch tatsächlich entfalten können. Deshalb sollten wir keine flächendeckende Schließung von Kitas und Grundschulen durchführen.